Arbeiten von 1957 bis 2015 von Jochen Stankowski
2015: Stephan von Wiese, 11.6.2015, Galerie K Westend, Dresden
Meine Damen und Herren, diese Ausstellung ist meines Wissens die erste Retrospektive des freien künstlerischen Werks von Jochen Stankowski. Die Ausstellung umfasst nahezu 60 Jahre. Die erste Arbeit hier ist ein Werk des 17jährigen mit geometrischen Formen auf leuchtend gelbem Grund, sie entstand im Jahr 1957: Der junge Mann sucht zum ersten Mal seine Formenwelt. Damals hatte Jochen Stankowski gerade seine Lehre als Schriftsetzer beendet. Die neueste jüngste Arbeit stammt dagegen aus diesem Jahr, sie wurde 2015 geschaffen, heißt Augenblick und zeigt - nun in ganz anderer Virtuosität – immer noch dasselbe geometrische Formengut. Beide Arbeiten hängen hier übrigens fast nebeneinander.
Man spricht bei diesem Formengut von Konstruktivismus. Stankowski setzt nun, 2015 diese Formen auf souveräne Weise raumgreifend ein: ein Quadrat dreht sich in fünf Phasen, es rotiert, es leuchtet in jeder Phase in einer anderen Farbe auf: von Rot über Violett, zu Blau, und über Orange zu Gelb.
Diese beiden Werke hängen im ersten Ausstellungsraum, bei dem eine chronologische Darstellung der Werkentwicklung gesucht ist, mit Papierarbeiten, zwei kleinen Skulpturen, Reliefs sowie einer knappen Auswahl der freien Gemälde. Der zweite Raum ist thematisch geordnet, zeigt Arbeiten etwa zu den Themenfeldern: Fraktale Geometrie, Licht durch Schatten, Dialektik des Sehens.
Bisher hat Jochen Stankowski immer Einzelaspekte seines Werks ausgestellt: Es gab Ausstellungen zu Licht und Schatten, denen Fotografien, etwa aus dem Orient, zugrunde lagen, es gab Zeichenbilder, die aus Signets, also aus angewandten Arbeiten entwickelt wurden. Daraufhin bezeichnete sich der Künstler als Zeichensteller. Es gab schließlich kürzlich hier in Dresden eine Ausstellung zum Thema Quadrat. Anlaß war damals der 100. Geburtstag des berühmten schwarzen Quadrats von Malewitsch. Immer hat Stankowski beide Seiten seiner Tätigkeit zusammengesehen: Die angewandte Seite, also seine Arbeit als Typograf, als Grafikdesigner, als Drucker, als Fotograf, und was immer damit im Zusammenhang stand, also die praktische Seite der Kunst, und dann daneben, gleichberechtigt, die freie Seite des Schaffens, die freien Bilder, Collagen, Reliefs und Skizzen. "Ohne Malerei kann man nichts erfinden" diese Kernaussage hat Anton Stankowski, der Onkel, mit dem zusammen Jochen Stankowski lange Zeit ein Grafikdesignbüro in Stuttgart betrieb, sich zum Motto gestellt. Er war ja einer der Pionier der Markenästhetik des 20. Jahrhunderts, der Lehrer für eine ganze Generation von Grafik-Designern - und eben auch ein großer freier Maler.
Und dieses Motto – Ohne Malerei kann man nichts erfinden - gilt ebenso für den Neffen, der bald eigene Wege ging. Die gemeinsame Wurzel, die Herkunft in der Formenwelt des Konstruktivismus, die Verankerung in der Ästhetik der russischen Revolutionskünstler und der deutschen Bauhaus-Künstler sowie der holländischen Stijl-Künstler, aber blieb zeitlebens bestehen. Jochen Stankowskis Werkverzeichnis seiner angewandten Arbeiten "Zeichen – Angewandte Ästhetik" präsentiert Entwürfe, Zeichnungen und Grafiken aus über 40 Jahren von der Anzeige, dem Flugblatt, dem Plakat bis zur Zeitung, zum Buch und bis zum Internet. Insbesondere die Buchuschläge für den Merve-Verlag mit der Raute waren stilbildend, ein künstlerisches Markenzeichen.
Wir sehen hier also in den zwei Ausstellungsräumen über 50 Werke mit jeweils ganz verschiedenen Themenaspekten, der Künstler ging bei seinen Erfindungen in die verschiedensten Richtungen. Es werden nicht nur geometrische Formen benutzt, es werden Prozesse visualisiert, Prozesse in Technik und Natur, Mechanismen im sozialen Zusammenleben, Denkmodelle für dialektisches Philosophieren. Jochen Stankowski hat dazu kürzlich in seinem Text "Gedanken zum Konstruktivismus" unter anderem geschriebe:
Der verkennt jedoch die Kraft, die in den konkreten – also konstruktiven - Formen vor uns liegen: rein optisch in den Wachstumssystemen der Natur oder in den Bewegungsgesetzen eines Wasserstrudel und abstrakt in den unsichtbaren Funktionen von physikalischen oder chemischen Abläufen; in wirksamen Kräften sozialer Verhältnisse oder in psychologischen und philosophische Gedankengängen und vieles mehr.
Betrachten wir also einzelne Werkbeispiele in dieser Ausstellung. Der Prozeß, das Gesetzhafte also kommen immer wieder zur Darstellung. Bei vielen Werken handelt es sich deshalb um ganze Bilderzyklen, von sechs bis hin zu siebzig Bildern. Hier in der Ausstellung wurden pro Zyklus nur einzelne Beispiele ausgewählt. Das jüngste Werk: Augenblick, ist ein Einzelstück, es zeigt, wie schon angeführt, einen Bewegungsprozeß: Das Rot hellt sich in der Rotation nach oben auf bis hin zum Gelb, die Quadrate werden also physikalisch leichter, lichtvoller, in der Bewegung nach unten hingegen werden die Formen schwerer, dunkler, bis hin zum nächtlichen Blau. Es ist eine Art Regenbogen im Quadrat. In der Serie 6-6tel Rechteck, mit Kreidefarbe gemalt, wurden die Quadrate nicht gedreht, sondern dreiteilig zerschnitten und nochmals geteilt, die auf diese Weise entstanden individuellen Formen haben jeweils eine andere Farbe. Bei dem wesentlich früheren Bild Determiniert stehen jeweils sechzehn blaue Quadrate übereinander in einer Reihe, ein roter Punkt wandert in Sinuskurven über das Quadratfeld und bringt es zum Vibrieren – diese frühe Arbeit von 1962 entstand offensichtlich unter dem Eindruck der Op-Art. Vor allem der Revolutionskünstler Malewitsch und der Bauhausmeister Josef Albers aber haben als erste die ganze Spannweite demonstriert, die sich in der Quadratform verbirgt. Von da aus wandert das Motiv durch die gesamte Moderne. In der berühmten Serie Hommage to the Square von Albers bestehen die Bilder immer aus den gleichen drei oder vier ineinander geschachtelten Quadraten von verschiedener Farbigkeit. Es wird ersichtlich, daß ein- und dieselbe Farbe je nach Umgebung völlig unterschiedlich auf den Betrachter wirkt.
Bei Jochen Stankowski bleibt es nicht beim Quadrat. Eine genauso dominante Rolle spielt auch die Linie in ihren Metamorphosen. Ein Zyklus zeigt, was man mit lediglich vier Linien bewirken kann. Und bei den hohen Rechteck-Bildern Verwandlung sehen wir in der Vertikale ablaufende Prozesse der Verwandlung der Linie in Schritten und Sprüngen. Schließlich wird aus der Linie ein Punkt. Alle diese elementaren Gestaltungsmittel Linie, Fläche, Punkt hat man einst am Bauhaus, bei Kandinsky, und an der Folkwangschule in Essen, bei Burchartz, in der Frühzeit der Moderne eingehend studiert, untersucht, variiert.
Anton Stankowski, der Onkel des Künstlers, begegnete diesen Lehren im berühmten Gestaltungsunterricht von Max Burchartz in den 20er Jahren auf der Folkwangschule. Er traf auf der Kölner Messeausstellung Pressa dann auch den russischen Proun-Künstler El Lissitzky, bei dem sich ebenso die verschiedenen Gattungen von Malerei, Architektur, Typographie und Fotografie verschieben und mischen. Jochen Stankowski hat dies autodidaktisch fortgeführt. Sehen wir die großen Zyklus Licht durch Schatten bei der nach Fotografien kleine Zeichnungen entstanden sind. Die konstruktivistische Architektur des Südens ist hier eingefangen. Diese gegenständliche Architekturmalerei führte zu nicht vorherbestimmbaren freien Formen. Die Verwandlung von Häuserbildern in geometrisch konstruktive Werke haben ebenfalls bereits die malerischen Pioniere der 20er Jahre erprobt, etwa Walter Dexel, ja selbst Paul Klee. Die weißen nordafrikanischen Städte haben für das Auge des Malers die Anmutung einer Sonnenuhr mit ständig sich wandelnden Licht- und Schattenfeldern.
Betrachten wir die Bildserie Dialektik des Sehens, einen Zyklus von zweiundsechzig Bildern aus den Jahren 1982 bis 2006. Jedes Werk wird durch immer dieselbe diagonale Linie von links oben nach rechts unten in zwei Hälften geteilt. Beide Bildhälften formulieren gewissermaßen einen Widerspruch, den das Auge aufdecken kann.
Aufbruch von1999 ist ein Zyklus von zweiundzwanzig Bildern aus dem Jahr 1999, bei dem rote Formen aus einem schwarzen Kernbereich herausbrechen, es ist als ob eine Knospe aufspringt. Die Bilder wurden von Naturphänomenen inspiriert.
Die komplizierteste Bildreihe sind vermutlich die Fraktal Bilder wie Fraktal Insel von 2007 mit grauen Formen, die im Blau schwimmen. Es sind Formen von gebrochener, gespiegelter Wiederholung. Fraktal – von lateinisch: fractus, in Stücke gebrochen – ist ein von dem Mathematiker Mandelbrot geprägter Begriff, der bestimmte natürliche oder künstliche Gebilde oder geometrische Muster bezeichnet, die sich kettenhaft immer wieder selbst kopieren.
Jochen Stankowskis Darstellungsmittel sind so gleichermaßen mit Kunst, Natur und Wissenschaft verbunden. Herzlichen Glückwunsch zum 75. Geburtstag!
Bild links: Dr. Stehan von Wiese ist Kunsthistoriker, leitete 31 Jahre lang die moderne Abteilung des museums kunst palast düsseldorf