Wissen im Druck - Suhrkamp und Merve
2010: Christoph Windgätter, Harrassowitz Verlag
Abb.: Hamburg, Sammlung Falckenberg. Der Merve-Verlag hat dem französischen Poststrukturalismus um Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, und Michel Foucault in Deutschland zum Durchbruch verholfen. Auch heute (2010), 40 Jahre später, hält Merve seine Stellung als alternativer, immer unkonventioneller Verlag für Kunsttheorie. Die Sammlung Falckenberg präsentiert zum 40-jährigen Jubiläum des Verlags eine Übersicht aller bisher erschienenen Merve-Publikationen in der von Jochen Stankowski entworfenen unverwechselbaren Optik als raumgreifende Wand-Installation.
"... Wie auch immer: Die ‚Speerspitze (‚der Neuen Linken’) wackelt’ schon einige Jahre, als ihr die Weihen einer Kulturinstition verliehen wurde. Nachdem Mitte der 1979er Jahre der Absatz der edition suhrkamp (Gestalter Willy Fleckhaus) um mehr als 25% einbricht, hat Suhrkamp nicht nur den Anschluß an aktuelle Theoriebildung verloren, sondern auch seine Hoheit über die Druckgestalt des Wissens. Statt deutscher Sozialphilosophen prägen nun französische Poststruktualisten die Stichworte der Diskurse – und mit ihnen der kleine Verlag in Berlin Schöneberg: Merve, dessen ebenso schlecht gebundenen wie oftmals copyriht-freien Bücher Autroren wie Baudrillard, Cixous, Deleuze, Foucault, Klosowski, Lyotard, Serres oder Virilio auf der anderen Rheinseite bekannt gemacht haben. Zwar hatte auch Suhrkamp schon vereinzelt ‚neue Franzosen’ publiziert, aber erst Merve machte sie im deutschsprachigen Raum zu jenen bis heute bekannten ‚Denkstilikonen’, die auch außerakademisch, in subkulturellen und künstlerischen Milieus rezipiert worden sind. Kein Wunder also, dass hier noch einmal die Buchgestaltung eine zentrale Rolle spielt, denn Merves Publikationen sind nicht nur billig, sondern folgen mit den Entwürfen des Grafikers Jochen Stankowski auch einem einheitlichen Design.
Die ersten Bände sind noch im Format A5 auf grauem Karton erschienen; ab 1976 aber, mit Band 63 wurde auf das bis heute gültige B6 Format (= 12,5 x 17,5 cm) umgestellt. Von Anfang an wird auf den Umschlägen neben der Helvetica-Schrift auch die Mervetypische Raute verwendet: zunächst als Linie, seit Band 53 als weißer Ausschnitt auf einem farbigen Fond und schließlich ab Band 110 selbst vollflächig sowie in verschiedenen Farben. Deren Reihenfolge ist zwar nicht vorgegeben, wie bei der edition suhrkamp, aber auch in ihrer freien Farbwahl sind die Bücher unmissverständlich als Merve-Bändchen zu erkennen. Außerdem erlaubt das Design weitere Anwendungen auf Plakaten, in Inseraten und sogar als Handtasche. Pointiert ließe sich sagen: So wie nach der Suhrkamp-Kultur eine ‚Merve-Kultur’ begonnen hat, so sind, vor allem in den 1980er Jahren aus dem Regenbogen monochrome Rauten geworden, die bei aufgeklappten Umschlägen‚ an Schmetterlinge erinnern’. Mit diesen Flügeln gelang den Büchern ein Imposanter Höhenflug: Was bei Merve verlegt wurde hat nicht einfach Leser, sondern ‚Fans’ (Felsch), denn mit den französischen Autoren zwischen Berliner Umschlägen hat sich das Verhältnis zur Theorie grundlegend veränderrt. „Man kann das“, schreibt Philipp Felsch, auch „Pop’ nennen“, oder: „In den Händen von Merve wurde Theorie hedonistisch“ – wodurch ja zunächst ein Karriereaspekt der edetion suhrkamp fortgesetzt wird, nur unter dezidiert anti-bibliophilen Vorzeichen und als Übergang zu einer Intellektuellen-Bohème jenseits der Universitäten. Darüber hinaus ist es von allem auch die serielle Merve-Gestaltung gewesen, durch die eine in Frankreich eher heterogenen agierende und verlegte Autorengeneration hierzulande immer wieder im Kollektivsingular, gerne auch angeführt durch ein ’Post-, wahrgenommen wurde. Ebenso, wie sie ohne ihre Bündelung unter der Raute nicht zu einem der meistzitierten Feindbilder in der deutschen Gelehrtenrepublik avanciert wäre. …"
Dr. phil. Christof Windgätter, http://christofwindgaetter.de/
Buchwissenschaftliche Beiträge 80, Harrassowitz Verlag, 2010