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Weiß und rein - Das Merve-Buch
Wie Bücher wirken
2015: Michael Schikowski

Ein Merve-Buch ist kein Comic. Und weil eine Comic-Beschreibung ohne Beispiele des Comics kaum auskommen wird, bleibt es nicht aus, bei der Beschreibung einer Theorie-Reihe, die das Merve-Buch gewiss ist, auch ein wenig theoretisch zu werden. Wie gestaltet man Theorie?

Die Theorie ist Weiß. Ein zurückhaltendes und ruhiges Weiß. Eine in Farbe gebrachte Anforderung an die sprachliche Bemeisterung schwieriger Sachverhalte. Merve-Bücher als Möbel wären ein Nicht-Möbel wie etwa ein Medizinschränkchen mit der Aufschrift: „Kühl und trocken lagern“.

Das Merve-Buch ist ein Durchstreichen der Buchästhetik. Und vielleicht ist die charakteristische Merve-Raute des Gestalters Jochen Stankowski auf dem Umschlag nichts anderes als eine enorme Vergrößerung einer Durchstreichung? Vielleicht ist hier ein Ausschnitt zu sehen, eine Vergrößerung eines Strichs, der in ganzer Breite erscheint und oben rechts und unten links den Bildrand verlässt. Eine Durchstreichung des Warencharakters, des Objektcharakters des Buches, die das Merve-Buch fast durchgängig bestimmt.

So wenig Ästhetik, wie möglich heißt dann so wenig Ware, wie möglich. Eine Buchgestalt als Ungestalt, allerdings nicht im Sinne des Ungetüms oder der Groteske, sondern im Sinne des Durchstreichens einer Berechnung auf Verkäuflichkeit durch Ästhetisierung. Das Merve-Buch als Gestalt gewordene Kritik der Warenästhetik.

Jedoch, das Material kann nicht ganz verschwinden. Mit der Materialgrundlage verschwände auch die Theorie.

Das Merve-Buch erscheint als Softcover im 140g-Umschlagkarton. Die Falz am Umschlag vorne und hinten erscheint als eine der ganz wenigen Serviceleistungen des um seine Kunden grundsätzlich niemals buhlenden Verlags. Mit ihr lässt sich der mit UV-Lack gestrichene Karton kontrolliert und ohne Knickspuren vom Buchblock abheben.

Die Abmessung des Merve-Buchs betragen 12 x17 cm. Den Buchblock hält eine einfache Klebebindung zusammen, womit zugleich garantiert wäre, dass Merve-Bücher jede über das bloße Aufschlagen hinausgehende Lektüre sofort erkennen lassen. Der Umschlag ist ohnehin nicht allzu stark, der Lack nur dünn aufgetragen und daher ist das Lesen jedem Merve-Buch sofort anzusehen.

Dahinter mag nun eine weitere, aber paradoxe, Serviceleistung des Verlags stecken: Die wenig bis gar nicht repräsentativen Merve-Bücher dokumentieren die Spuren jeder noch so vorsichtigen Lektüre. Die Praxis des Lesens, die sich jedem empfindlichen Buch rasch unverkennbar einprägt, ist offensichtlich nicht störend, ganz im Gegenteil, sie wiegt das Fehlen aller repräsentativer Beständigkeit, die die Lektürespuren nur sehr schwer aufnimmt, voll auf. Gebrauchspuren am Buch sind hier das Stirnrunzeln beim angestrengten Nachdenken über schwierige Theorietexte.

Die Schrift, der serifenlosen der Arial nicht unähnlich, ist Helvetica. Sie verrät die Sachlichkeit eines Beipackzettels für Kopfschmerztabletten, die die Texte bereiten mögen, aber auch schweizerische Frische und Neutralität.

Auf dem Buch und im Buch überall gleich Helvetica – auch die Autorenbio auf der U2, auch in den Fußnoten (etwas kleiner gesetzt) und selbst beim mittelaxial gesetzten Verlagshinweis auf der U3 – überall gleich bleibend Helvetica. Hier wird alles in einer Schrift mitgeteilt, in ein und derselbensachlichen Sprache. Eine Schrift, die anders wäre, wäre Werbung und dem Text über, aber über allem ist im Merve-Buch ja schon die Theorie.

Nur auf der Rückseite wird die Schrift mal wild und setzt einen Satz von Dirk Baecker (Abb. oben) in der Form eines sich öffnenden Lichtkegels, aus dem der Begriff „Beobachter“ typografisch sich vergrößernd hervorglotzt. Eine futuristische Reminiszenz.

Was auf dem Buch als serifenloses Signal mit Helvetica noch hingehen mag, erweist sich im Text für den an belletristische Schriften gewöhnten Leser, als wenig lieblich, eher als starr und spröde. Aber auch hierin paradoxe Entsprechung zum theoretischen Text, der eben nichts vortäuschen mag. Hier folgt der Leser dem Text, nicht umgekehrt.

Zugleich erweist sich das Merve-Buch als alles andere als eine studentische Studienausgabe. Buchformat und die wenig haltbare Ausstattung lassen diesen Gedanken gar nicht erst aufkommen. Die Papiersorte Munken creme, der Satzspiegel mit seinen 9 x 14,2 cm und auch die geringe Schriftgröße lassen ein Durcharbeiten, Unterstreichen und Kommentieren kaum zu. Merve ist zwar auch der Name für den biblischen Baum der Erkenntnis, der aber steht offensichtlich nicht allzu oft auf dem Universitätscampus. Insofern ist das Merve-Buch eher eine Schrift für den akademischen Nachmittagsmarkt.

Die Gestaltung der Gesellschaft und ihre theoretische Erfassung ist das Ziel des Merve-Buchs. Damit rückt sich das Merve-Buch in seiner gestalteten Nicht-Gestaltung in eine Position, die alle anderen in den theoretischen Blick zu nehmen verspricht, ohne je selbst in den Blick genommen werden zu können. Versuchen wir es trotzdem, zeigt sich, dass auch Nichtgestaltung oder reduzierte Gestaltung im Umfeld gestalteter Bücher ein „Kulturkalkül“, eine Aussage über sich selbst, enthält.

Michael Schikowski „Glanz und Melancholie. Anmerkungen zur Buchgestalt“  ISBN 978-3-934054-41-7