Fünf mal Stuttgart
Martin Stankowski zur Eröffnung der Plakate-Ausstellung
2022: Württembergischer Kunstverein Stuttgart am 13. Mai
Stuttgart zum Ersten
Jochen St. - 1940 im Sauerland geboren, Vater, Mutter, 4 Brüder, nach 8 Jahren Volksschule die Lehre als Schriftsetzer. Und hierfür war entscheidend der Rat eines Stuttgarters, der Rat von Anton Stankowski. Das war der Bruder des Vaters und er war Grafiker in Stuttgart, hatte selber keine Kinder und riet dem Neffen, bzw. dem Vater zur Lehre als Schriftsetzer, oft die handwerkliche Voraussetzung für den Grafiker, damit er später auch einen grafischen Nachfolger hat. Der Lastenausgleich der Brüder sozusagen.
Drei Jahre Arbeit mit der Hand, den Buchstaben, dem Blei und die Grundkenntnisse von Typografie. Die Erfahrung, dass das typografische Werk nicht nur aus sicht- und bedruckbaren Teilen, sondern ebenso aus den freien, den unsichtbaren Teilen und Flächen besteht. Gestaltet und gedruckt wurden Handzettel, Werbe- oder Totenzettel. Hier beginnt die Bekanntschaft mit Schriften, ihren Normen wie Eigenarten. Er lernt das grafische Empfinden für den zweidimensionalen Raum. Vom ABC zur Fläche.
Stuttgart zum Zweiten
1958 verlässt Jochen St. den Lehrbetrieb in der Geburtsstadt Meschede und es beginnt die Stuttgarter Gesellenzeit als Typograf in der Dr. Cantz‘schen Druckerei in Bad Cannstatt. Seine Behausung das Kolpinghaus in Cannstatt. Er belegt Abendkurse in der Hochschule des Grafischen Gewerbes und in der Kunstakademie.
1960 dann die grafische Ausbildung im Atelier Anton Stankowski, Gebrauchsgrafik in der Kombination von Angewandter wie freier Kunst. Anton St. war einer der Pioniere des Corporate Design. Der hatte seine visuellen Wurzeln in den 1920er Jahren in der Folkwang-Schule in Essen bei Max Burcharz, einem der Konstruktivisten in Deutschland, beeinflusst von den russischen Konstruktivisten ebenso wie dem holländischem De Stijl. Folkwang war eine ebenso gute Schule wie das Bauhaus, nur nicht so berühmt.
Stuttgart zum Dritten
1967 geht er für zwei Jahre zum Studium nach London aufs "College of Printing". Danach wird der Partner beim Onkel und das Atelier hat jetzt den offiziellen Titel "Atelier Anton und Jochen Stankowski" . Hier werden Grundlagen fürs Firmenimage entwickelt, die Corporate Identity für SEL etwa, das Berlin-Layout, der Deutscher Ring, Iduna, Rewe oder Vissmann sind nur ein paar der Kunden.
Im Atelier wird jeder Schritt diskutiert, denn hinter fast jeder Lösung steckt eine bessere und die Suche endet nie. Das ist für Jochen St. das Erbe von Anton St. Dessen Skizzenbuch ist offen wie sein Haus. Offenheit auch gegenüber der Stadt. Der Philosoph Max Bense war Gast, so wie Anton St. Gast beim Buchhändler Wendelin Niedlich ist. An den Wochenenden stehen Besuche an in Galerien, Ateliers und Museen.
Eine der faszinierenden Aufgaben wird dann im Atelier Stankowski ein neues visuelles Konzeption für die Stuttgarter U-Bahn. Jochen St. erforscht Bedürfnisse und Wünsche der Fahrgäste. "Wie orientiert sich der Mensch unter der Erde?" Farbliche und typografische Leitsysteme entstehen. Vorbilder sind die Leitsysteme in London und Mailand. Dieses System kann sich bis heute sehen lassen - auch wenn es nicht mehr sichtbar ist in der Bahn.
Stuttgart zum Vierten
Aber daneben gibt es auch immer politische Grafik. Schon 1968 war er als Grafiker an der Aktion "Kritischer Katholizismus" beteiligt, ein Zusammenschluss kirchenkritischer Gruppen, die den Katholikentag in Essen aufmischten und dazu eine tägliche Zeitung unter diesem Titel "Kritischer Katholizismus" herausgaben mit dem Hinweis im Impressum "Organ der antihierarchischen Opposition", die danach als Monatszeitung für ein paar Jahre weitergeführt wurde, wobei die Adresse von Jochen St., als Verlagsadresse fungiert, und seine damalige Frau Hildegard St. den Vertreib managte.
Dazu kamen in Stuttgart eine Fülle von Initiativen und Projekten, für die Jochen St. Drucksachen, Plakate, Flugblätter entwarf, all das, was man seinerzeit "Agitation" nannte. Er erarbeitete ein visuelles Konzept für das "Parteifreie Bündnis Eugen Eberle" für die Kommunalwahl, war aktiv im "Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK)" oder im "Komitee gegen Notstandsgesetze" und in diversen anderen Initiativen und Bürgerprojekten, und wie immer in Stuttgart, war Peter Grohmann dabei bzw. vorne weg.
Die Kunst des Klebens
Plakate sind Medien, quasi Briefe an die Öffentlichkeit und angefangen hat es wahrscheinlich mit Martin Luther, als der seine 99 Thesen an die Kirche in Wittenberg nagelte. Gerade in den Zeiten der Reformation gab es ja eine Fülle von Flugschriften und immer im öffentlichen Raum. Flugblätter, Plakate sind dafür geeignete Medien, und öfter in bewegten Zeiten, wie den 60er/70er Jahren, Zeiten in denen gestritten wird und Botschaften in der Öffentlichkeit zum gesellschaftlichen Diskurs gehören. Der Vorteil des Mediums: Es ist direkt. Ein Plakat ist kostenlos zu lesen und erreicht viele. Es ist einfach herzustellen und meinungsstark.
Aber dann in Stuttgart, zwischen Atelier auf dem Killesberg und den Bürgerinitiativen unten in der City, wurde der Widerspruch immer deutlicher: Werbung kann nicht alles sein. Jochen St. hatte zwar im Atelier gelernt, dass es keine Trennung von freier und angewandter Arbeit, von Kunst und Werbung geben darf. Aber reichte das? Was ist mit den Widersprüchen von privaten und öffentlichen Interessen? Was mit denen zwischen kommerzieller und politischer Arbeit? Und wie kann an ihrer Aufhebung gearbeitet werden?
Die Antwort war 1972 das Ausscheiden aus dem Stuttgarter Atelier Stankowski und die Gründung eines neuen Betrieb in Köln. Hier lebten Bruder Martin und ein Freund aus mescheder Jugendtagen, Ivo Rode. Die drei hatten schon manches miteinander öffentlich unternommen ua auch den "Kritischen Katholizismus" und sie gründeten jetzt in Köln eine Druckerei mit dem Namen "Druckbetrieb am Niehl", in Anspielung auf den gleichnamigen Kölner Stadtteil im Norden ganz in der Nähe der Ford-Werke. Der Gedanke war, weiterhin mit diesen Medien zu arbeiten, Flugblättern, Plakaten, Broschüren, Büchern, Zeitungen, sie aber auch selber herzustellen, um sich zugleich den Lebensunterhalt zu sichern. Im Betrieb wurde die gesamte Produktionskette angeboten, von der Konzeption, über die Gestaltung, den Druck und zT auch die Distribution. Die „Kunden“ waren Bürgerinitiativen und gesellschaftspolitische Projekte, Frauen- und Friedensbewegung, soziale Initiativen, Betriebs- oder Umweltgruppen. Hier gehörten sie auch zu den Gründern des "Kölner VolksBlatt. Bürgerinitiativen informieren", der ersten Alternativzeitung in Köln, und bald Vorbild für zahlreiche andere Volksblätter landauf, landab. Sie waren Drucker und Verleger, Gestalter und Autoren und am Ende auch die Zeitungsverkäufer auf der Straße.
Mal ohne Stuttgart
Noch in der Stuttgarter Zeit kam Jochen St. in Kontakt zum Berliner Merve-Verlag, für den er vom ersten Buch an das Umschlaglayout entwickelte. Es war die Idee mit der Raute, einfach und prägnant, die eine Hälfte eines aufgeschlagenen Buches abstrahiert darstellt und als grafischer Reihentitel bis heute funktioniert und das Serienprinzip visualisiert, eben ein Buch aus dem Merve-Verlag. Für den Verlag war das ein Glücksfall, denn damit wurde er ähnlich bekannt wie Suhrkamp etwa mit der Regenbogenreihe und entsprechend prägt und visualisiert die Raute die "Merve-Kultur".
Stuttgart zum Fünften
Ende der 90er Jahren nach fast 25 Jahren Arbeit und Gestaltung im DruckBetrieb zog es Jochen St. vom Rhein an die Elbe. Und wieder hatte das mit Stuttgart, bzw. einem Stuttgarter zu tun, Peter Grohmann. Der lebte in Dresden-Klotzsche und bot Jochen St. an, bei ihm zu leben und zu arbeiten, zunächst als "Stadtmaler" in Kutscherhaus auf der Grenze. Den Stadtmaler hatte Grohmann selbst erfunden, Jochen war der erste und soweit das zu überblicken ist, auch der einzige.
In Dresden arbeitete er dann wieder als grafischer Künstler oder künstlerischer Grafiker in eigenem Atelier und immer auch als Gestalter für die vielen Drucksachen und Plakate der "Anstifter" in Stuttgart, wohin Peter Grohmann nach einigen Jahren wieder zurück gekehrt war, während Jochen St. jetzt wieder mal seit fast einem viertel Jahrhundert in Dresden lebt, arbeitet, gestaltet, malt oder fotografiert.
Nach Vilém Flusser versteht er sich als Zeichensteller, einer der Zeichen herstellt, und an Schriftsteller und Schausteller erinnert, aber auch den Fallensteller assoziiert. Er baut Fallen für den Alltag: Sehfallen für die Öffentlichkeit. Man erblickt das Nicht-Gesehene. Der Zeichensteller hilft bei Orientierung und kann Nichterkanntes ans gesellschaftliche Tageslicht bringen.
Warum das alles?
Warum jetzt, einige Jahrzehnte später, eine solche Ausstellung politischer, nicht kommerzieller Plakate? Agitation und Propaganda, wie das einstmals hieß, sind ja heute in die digitale Welt verlagert. Gedruckte Plakate im öffentlichen Raum werden seltener. Ausnahmen sind Wahlen und natürlich der Kommerz, die großflächige Plakatwerbung in den Städten. Gerade das nimmt zu, wobei analog oder digital zunehmend kein Unterscheidungsmerkmal mehr ist. Die Städte stellen den öffentlichen Raum der Werbewirtschaft zur Verfügung, meist nur gegen kleines Geld. Die raumgreifenden Großplakate der Konsumindustrie werden allerdings zunehmend als Zerstörung des öffentlichen Raums empfunden. Und es gibt einzelne Städte - noch nicht in Deutschland -, die beginnen die Großwerbung in ihren Mauern einzudämmen und zurückzudrängen.
Und die zweite Antwort auf die Frage, warum jetzt diese Plakate, gibt eine Erkenntnis von Louise Otto-Peters, eine der Begründerinnen der Frauenbewegung, die schreibt: "Die Geschichte aller Zeiten lehrt, dass diejenigen auch vergessen wurden, welche an sich selbst zu denken vergaßen."