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Gedanken zum Konstruktivismus
Jochen Stankowski nach Horst Richter
in 'Visuelle Memoiren', Walther König Köln, 2019

Viele bildende Künstler wurden nach 1933 in ihrer Stimme unterdrückt, ja, waren persönlich gefährdet, vermochten sich der Öffentlichkeit nicht zu präsentieren, geschweige denn wegweisend in die allgemeine Kunstentwicklung einzugreifen. Das hat in erster Linie den Konstruktivismus betroffen, insbesondere nach der Westwanderung seiner revolutionären russischen Garde. Nicht nur die Russen, auch Polen, Ungarn, Holländer. Aus konstruktivistischen Teilströmungen unterschiedlicher Tendenz (wie etwa De Stijl und Suprematismus) erwuchs eine Synthese, deren Vorzug es war, praktische Lösungen für die geforderte Annäherung von Kunst und Leben, Kunst und Gesellschaft, Kunst und Technik zu bieten.

Nach 1915

Bei den Alt-Konstruktivisten (besonders bei den Russen) löste die Begegnung mit den Wissenschaften und deren industriellen Folgen eine schier unglaubliche Faszination aus. Verständlich, denn noch aus dem 19. Jahrhundert heraus galten ästhetische Grundregeln, die ein Aufgreifen des naturwissenschaftlichen Denkens und Tuns im Kunstbereich völlig ausschlossen. Die akademischen Würdenträger sahen hier das eine, die »schönen Künste«, dort das andere, die »hässliche Wissenschaft«. Plötzlich wurde zwischen beiden, scheinbar unendlich weit auseinanderliegenden Polen eine Brücke geschlagen.

Malewitsch sprach 1913 davon, die »Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien«. Die Suprematistin Nadeschda Udalzowa schrieb 1915: »Wo doch die Naturwissenschaft die Evolutionstheorie längst akzeptiert hat, da soll ausgerechnet die Kunst auf der Stelle treten?« Und De Stijl 1918 in ihrem Manifest: »Das alte Zeitbewusstsein richtet sich auf das Individuelle. Das neue auf das Universelle.« Die Russen Ladowski und El Lisitzky entwickelte Anfang der 20er Jahre ein »Postrometr« zur Entwicklung einer »rationalen Ästhetik«. Will Grohmann schreibt 1925 zu einer Dresdner Ausstellung von P. Mondrian und Man Ray von »einer künstlerisch-hellseherischen Begabung, deren Quelle jenseits der Natur in einem Bereich liegen, wo exakte Wissenschaft mit Phantasie und Intuition sich paart.«

An welcher Stelle drängt die Ästhetik in die Wissenschaft? Entstehen empirische Theorien auch dadurch, dass sie zugleich ein ästhetisches Bedürfnis stillen? Was finden Wissenschaftler schön? Einfachheit, Klarheit, Geschlossenheit, kontrastreiche Kombinationen oder Einheit in der Vielfalt?

Aber als man nach einer schöpferischen Atempause, die um 1930 zu registrieren ist, in die zweite Phase des Konstruktivismus hätte treten können, planvoll die zündenden Urgedanken vereinend, arbeitend nun auch nach Erkenntnissen der Psychoanalyse und den naturwissenschaftlichen Gesetzen, da plötzlich machte ein politisches Gesetz brutal reaktionärer Machtausübung in der Sowjetunion und in Deutschland, dann in ganz Europa, allem ein Ende. Von diesem Verdikt hat sich der Konstruktivismus nie mehr richtig erholt. Ein neues »Bauhaus in Chicago« oder die »Hochschule für Gestaltung Ulm« blieben im Versuch stecken. Andere Rettungsbemühungen rückten gar nicht erst ins öffentliche Bewusstsein.

Nach 1945

In den ersten Jahren nach 1945 hatte der Konstruktivismus keinen Platz in der Gesellschaft wie auch in der Kunst selbst. Es fehlte ganz einfach an den Künstlern, die mit Werk und Wort seine Aktualität und Lebendigkeit hätten erweisen können. Viele waren inzwischen gestorben, so Kasimir Malewitsch und El Lissitzky, anderen wie Erich Buchholz oder Werner Graeff  mangelte es an den materiellen Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen, und viele hatten resigniert, reproduzierten nur noch eigene Bilder nach Fotos, Erinnerungen oder anderen Unterlagen. Man wird das verstehen müssen, da diesen Künstlern das Nachkriegsschweigen am schwersten mitgespielt hat.

Beim Schweigen nämlich blieb es zunächst, auch als sich in Westeuropa und den USA eine neue Generation von Geometrikern zu formieren begann. Es handelte sich um eine Künstlerschaft, die bald einen Neo-Konstruktivismus kreierte, der später in der Op-Art, Minimal-Art und den Determinierten Formen mündete.

Dass die ideellen Voraussetzungen für alten und neuen Konstruktivismus höchst gegensätzlicher Natur waren und sind, vermag ein genauer Vergleich der Prinzipien und Ziele unschwer zu erhellen. Ebenso wenig kann man leugnen, dass es − formal gesehen − erhebliche Übereinstimmungen gibt. Sie spiegeln sich wider in der Bevorzugung weniger, farblich streng voneinander abgegrenzter, meist formaler Motiveinheiten, nämlich Kreis, Linie, Rechteck, Winkel, Trapez, und das in unendlichen Varianten.

Aus der Geschichte heraus standen die Künstler, die die konkrete Formsprache verwendeten, zur Mathematik und Physik in einem vergleichsweise trauten Verhältnis. Der künstlerische Aktionsradius ließ sich damit erheblich erweitern. Vor diesem Hintergrund konnte die raffinierte Lichtkunst oder auch die virtuose Kinetik entstehen. Und selbst die Pop-Art ist in der Wahrnehmung von Alltag wie auch in ihren seriellen Formen von ihnen beeinflusst.

Heute

Viele Konstruktivisten oder konkrete Maler berufen sich auf den »reinen Ausdruck« und arbeiten für den »geistigen Gebrauch«. Sie beherrschen die Geometrie und sind damit beschäftigt, ihre Formen zu ästhetisieren – oft mit teuren Materialien. Aber wie man sieht, führt das häufig ins Banale und in die Langeweile.

Das verkennt jedoch die Kraft, die in den konkreten Formen liegt: rein optisch in den Wachstumssystemen oder in den Bewegungsgesetzen der Natur und abstrakt in den nicht sichtbaren Funktionen physikalischer oder chemischer Abläufe, aber erkennbar auch in wirksamen Kräften sozialer Verhältnisse wie in psychologischen und philosophischen Gedankengängen und vielem mehr. Wir »machen uns Bilder von der Wirklichkeit« (Wittgenstein) und drücken sie aus in Gedanken und Ideen, in Sprache und Liedern, in Tänzen und eben auch in visuellen Noten, in Bildern. Umgekehrt rufen Gedanken, Ideen wiederum Bilder oder Imaginationen hervor.

So nehme ich die abgerissene Linie der konkreten Großväter auf, schaue auf die Variationsbreite der konkreten Väter und arbeite weiter. Das erhebt die Aktualität des Ur-Konstruktivismus weit über jede antiquarische Sympathie hinaus. Der Philosoph Hans Heinz Holz kennt diesen Zusammenhang: »Das Zusammenfallen von Sinn und Bedeutung, von Sein und Bewandtnis geschieht nur in der von ungleichen Assoziationen entlasteten reinen Form.«

Meine visuellen Memoiren

enthalten meine Suche nach diesen Möglichkeiten. Ich habe im Laufe meiner grafischen Arbeit intensiv an 42 Themen gearbeitet, andere sind rudimentär geblieben und harren ihrer Ausarbeitung.

Einige dieser Themen sind die Abstraktion von Gegenständlichkeiten − wie die Landschaft oder der Pfeil –, andere sind Übertragungen von Gefühlen − wie Träume oder Geister. Wieder andere bilden Abstraktionen von Ideen oder Gedanken − wie Fraktal und Wandel. Noch andere sind Übertragungen von visuellen Ansichten in Empfindungen − wie Falte oder Spiegelung.

Immer ging es mir um die Antwort auf die Frage: Was ist eigentlich darstellbar? Bilde ich die Themen ab oder entstehen Empfindungen dann, wenn wir eine konkrete Darstellung sehen? Welche abstrakten, nämlich gegenstandslosen Themen lassen sich ausdrücken, beschreiben, und das heißt für mich: im oder als Bild darstellen? Welche Eindrücke werden zu realen Gedanken? Können Gedanken Grundlage für visuelle Darstellungen sein? Es greift zu kurz − das nur als ein illustrierendes Beispiel −, das Thema »Freundschaft« etwa mit einem Händedruck abzubilden. Das ist wie eine Mahlzeit aus auf Papier gedruckten Kartoffeln und Schnitzeln.

Es geht darum, die richtige grafische Form, nämlich in Farbe, Format, Kombination zu finden, das, was der inneren Notwendigkeit des Gedankens und Empfindens entspricht. Wie eine Nebelwand trennt eines das andere, man muss beides gleichzeitig bedenken und zugleich empfinden: den offenen, das heißt den metrischen ebenso wie den verborgenen, also den gefühlsmäßigen Raum (mehr dazu auf Seite 108). Offen sind etwa Linie, Farbe, Fläche, Ecke, Ende, Kante, Schräge, Spiegelung. Das ist der Rahmen. Verborgen sind die Empfindungen der zu gestaltenden Themen. Ein Symbol besteht aus zwei Teilen, dem Zeichen und dem, was es bezeichnet. Es gibt eine Psychologie der Farbe, warum gibt es keine Psychologie der Form?

Ausgangspunkt jedes Gestaltungsprozesses ist ein Thema, eine Idee, ein Problem, ein Gegenstand. Diese lösen bei mir interne Prozesse aus, nennen wir sie Internalisierungsprozesse. Sie umfassen bewusste Vorgänge wie Gedanken oder Erkenntnisse, aber auch unbewusste mentale Abläufe, Vorstellungen, Emotionen, Gefühle.

In der nächsten Phase werden die inneren Vorgänge und Prozesse nach außen verlagert, externalisiert. Einfach ausgedrückt: Eine Form wird auf Papier gebracht, wird gestalterisch, es interessiert ein Thema, ich bin neugierig und suche durch Skizzieren eine Matrix. Oder: Ich habe ein Thema und variiere es, gehe bis an die Grenze der Überschreitung zu einem anderen Thema. Oder: Ich habe Eindrücke und male sie ab. Oder: Ich mache eine Erfahrung und suche dafür eine Form der Darstellung. Dabei laufen wiederum bewusste und unbewusste mentale Vorgänge ab. Ist eine Form gefunden, wird diese vom Betrachter auf seine individuelle Weise wahrgenommen. Im Idealfall löst sie Reaktionen aus, wie sie zuvor von mir beabsichtigt, antizipiert wurden.

In der grafischen Systematik bin ich auf eine Gratwanderung angewiesen. Auf der einen Seite macht jede Systematik etwas vergleichbar, auf der anderen stutzt Systematik die zu vergleichenden Aussagen auf eine Linie zurecht.

Ich habe Momente von Formen vor Augen, nicht wirklich sichtbar, sondern vor dem »inneren Auge«, ich nenne das ein »Ideogramm«, und male sie ab, soweit die Erinnerung hält und es möglich ist, diese in meinen Formen darzustellen. Ich habe Geschichten, erlebte oder geträumte, und suche den entscheidenden Moment zu malen oder den Ablauf in ein Bild zu fassen. Mein Bild ist die konstruktivistische Formenwelt.

Skizzen     
      
Für die visuellen Memoiren dokumentiere ich vor allem meine Skizzen, weil diese grundsätzlich am Anfang des Weges zur Ideenfindung, genauer der Formfindung stehen und aus ihnen später die Bilder und Grafiken entstehen. Ich kann ohne den Zeichenstift in der Hand eigentlich gar nicht gestalterisch denken. Besonders inspirierend ist die Unfertigkeit, die Vorläufigkeit der Skizzen. Da gibt es immer Andeutungen oder Lücken, die noch nicht fertiggestellt wurden. Die Lücken setzen meine Phantasie in Gang für den weiteren Produktionsprozess. Gutes Design entsteht nicht so einfach im Kopf, als eine Idee, die man hat und die dann nur noch in Material umgesetzt werden müsste. Dabei verlasse ich mich auf meine Augen. Augen haben ein eigenes Ressort im Gehirn. Das genaue Hinsehen und Beobachten ist mir eine sehr verlässliche Orientierung, fast so etwas wie ein Resonanzboden, der mich in die richtige Schwingung versetzt. Mathematische oder geometrische Zugänge kommen bei mir eher selten vor, obwohl sie im Design natürlich eine lange Tradition haben. Ihre Genauigkeit kann ich aber erst später gebrauchen, wenn die Skizze in ein Bild oder in eine Vorlage für die Druckerei übertragen wird. Da muss natürlich alles stimmen: die Winkel, die Proportionen usw. Gleich mit einer solchen Präzision anzufangen liegt mir aber nicht. Mein Weg ist es eher, mit der Freiheit und der Offenheit der Skizze zu beginnen. So gelingt es mir besser, den Formen eine Kraft zu verleihen, die sie für ihr Überleben in der Welt brauchen.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man die erste Idee, die man für einen Auftrag hat, wegwerfen kann. Sie ist meistens viel zu konventionell, zu sehr den üblichen Anschauungen und Gewohnheiten verhaftet. Damit die Form etwas taugt, muss man sich aus dieser Konvention herausarbeiten. Das ist oft ein langer Prozess, den man durch Pausen unterbrechen muss. Das kann man nicht einfach aufs Papier werfen. Dafür muss man sich auf das Material einlassen, muss Umwege gehen und in Sackgassen gelaufen sein. Erst ganz langsam und nach vielen Versuchen kristallisiert sich dann aus meinen Skizzen ein bestimmtes Zeichen oder eine bestimmte Form heraus, mit der ich arbeiten kann.

Bild und Schrift

Eine Werkgruppe meiner visuellen Memoiren widmet sich der Verbindung von Bild und Schrift. Sie sprechen uns unterschiedlich an: Bild unser Empfinden und Schrift das Denken. Nicht jedes Bild lässt sich von jedem Betrachter gleich empfinden und entschlüsseln. Natürlich nicht. Jeder Mensch hat seine eigenen Assoziationen, aus seiner Kultur heraus, aus seinem Milieu. Das Lesen eines Bildes ist individuell. Der Prozess des Betrachtens ist vielleicht durch die Größe der Formen oder die Heftigkeit der Farben bestimmt. Die Augen springen, suchen sich eine Reihenfolge in der Betrachtung, das Gefühl macht sich seine eigene Geschichte, sein eigenes Bild vom Bild.

Man kennt die Geschichte aus dem Alten Testament vom Tanz um das Goldene Kalb. Moses wollte dem Volk, der archaischen Menschheit, neue Gesetze geben, jenseits der Zwänge der Natur. Er kehrte vom Berg Sinai zurück mit Texten auf Tafeln: Gesetze! Sein Volk ahnte wohl, dass der Ausflug von Moses die Geschichte umstürzen, ihr Leben ändern sollte, und bot noch einmal all seine mythischen Fähigkeiten auf und schuf ein Bild, ein Standbild: ein Kalb aus Gold. Gold strahlt, das Auge wird angezogen, eingesogen. Gold ist himmlisches Feuer, das auf die Erde fiel. Die Sonne ist das alte chemische Symbol für Gold. Und die Menschen feierten und tanzten um das Kalb, um ihr Bild. Sie tranken und lachten und weinten und stritten − was weiß man, was sie noch trieben. Im Angesicht ihres Bildes. Daher stammen bis heute die Macht und die Magie des Visuellen.

aus: Visuelle Memoiren, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2019

In diesen »Gedanken zum Konstruktivismus« beziehe ich mich anfangs bei der historischen Betrachtung aus Horst Richters Artikel »Die zwanziger Jahre heute − Gedanken zur Renaissance des Konstruktivismus«, in Eau de Cologne Nr. 1, Köln 1968.